Treffen oder Begegnung? Was ist der Unterschied zwischen einem Treffen und einer Begegnung, und was bedeutet das eigentlich – sich wirklich zu begegnen?
Fatima wuchs bei ihren Grosseltern in Deutschland auf; ihre Mutter hatte sich von Fatimas algerischen Vater getrennt, als diese noch ein Kleinkind war. Seitdem hatte sie ihren Papa weder gesehen noch gehört – bis sie per Zufall auf Facebook von der algerischen Seite ihrer Familie kontaktiert wurde. Sie entschloss sich nach einem Telefonat und einem Skypegespräch kurzerhand dafür, ihren Vater und dessen neue Familie in Algerien zu treffen. Von dieser bedeutsamen Begegnung erzählt sie hier.
Das sicherlich wichtigste Erlebnis des Jahres, ach was sage ich – meines Lebens! war das Kennenlernen meines Vaters diesen Mai. Uijuijuijui, was war ich aufgeregt, und dann war es plötzlich soweit: Mein Freund Dennis und ich sitzen im Flieger… zweieinhalb Stunden von Zürich nach Algier… ein Katzensprung sozusagen. […] Nach einer turbulenten Taxifahrt kommen wir in Jijel an. Tja und dann, der grosse Moment: Ich steige aus dem Taxi und sehe meinen Dad – meine Glückshormonausschüttung läuft auf Hochtouren!! Wir umarmen uns. […] Ein junger, freundlich dreinschauender Mann neben uns begrüsst mich mit «Hi, I am Yassine, I am your brother». Zwei lächelnde Frauen, die an der Eingangstür zum Haus warten, winken uns herein. Wie sich herausstellt, sind das Lemija, mit 21 Jahren meine jüngste Halbschwester und Jamila, die neue Frau meines Dads. Wir begrüssen uns alle herzlich, ganz ohne Berührungsängste. Das Essen wartet bereits auf uns, ein vollbeladener Tisch – da könnten noch doppelt so viele Leute mitessen. Manche Dinge sind wohl überall auf der Welt gleich… Mein Vater und seine Familie leben in einem sehr einfachen Haus, das aus europäischer Sicht wohl mal wieder verputzt und gestrichen werden sollte… aber es hat Charme, und es ist alles da, was man braucht. Yassine spricht Englisch, die Damen des Hauses ausschliesslich Algerisch und Hoch-Arabisch. Mein Dad kann sehr gut Deutsch – witzig, dass ich damals bei unserem Skypegespräch eine französische Übersetzerin dabei hatte, weil ich annahm, er spreche kein Deutsch mehr… Schon am ersten Abend sind sich alle einig: ich sei wie Nihad, meine 26jährige und damit älteste Halbschwester. Sie sei genauso energiegeladen – und rede genauso viel wie ich. Herrlich, gleich zu erfahren, dass ich in dieser Familie nicht der einzige Wirbelwind bin! Nihad ist kürzlich ausgezogen, da sie Mehedin geheiratet hat; und da ist es üblich, dass die Frau zum Mann zieht. Ich bin schon voller Vorfreude, meine Wirbelwind-Schwester am nächsten Tag kennen zu lernen. Mein Dad ist ein wenig nervös, als das Gespräch auf die Unterkunft kommt. Er habe ein Hotel organisiert… aber wir könnten natürlich auch hier schlafen, in Yassines Zimmer. Ich bin unsicher, was ihnen lieber ist – und weiss auch nicht so recht, wie ihre Einstellung dazu ist, dass Dennis und ich (unverheiratet) in einem Zimmer schlafen möchten. Vorsichtig lasse ich durchblicken, dass wir ihnen nicht zur Last fallen wollen… am Ende stellt sich heraus, dass sie uns gerne bei sich haben wollen, aber unsicher sind, ob uns das komfortabel genug sei. Uns, die wir regelmässig Zeit auf einer Hütte ohne fliessend Wasser und Strom verbringen! Ha. Sie freuen sich sehr, dass wir bei ihnen schlafen und uns ist das auch lieber – also hippiejuchey, allesamt zufrieden.
Alle bis auf Jamila gehen einer bezahlten Beschäftigung nach: Yassine verkauft Farben in einem Maler-Geschäft, Nihad hat einen Universitätsabschluss und arbeitet in einer Zahnarzt-Praxis, Lemija macht gerade ein Praktikum und mein Dad hat einen Imbiss, in dem er gegrillte Fleischspiesse verkauft. 350–400 Spiesse gehen da an einem Abend über den Tresen. Vormittags und nachmittags bereitet er die Fleischstücke vor; er entfernt die Haut und Sehnen und würfelt sie klein, um sie dann aufzuspiessen. Wenn man ihm so dabei zuschaut, hat es definitiv etwas meditatives. Während er das Fleisch vorbereitet, hört er Sprach-Lern-Kassetten. «Weisst du Fatima, ich habe keine Zeit, um in die Schule zu gehen und eine Sprache zu lernen. Ich muss doch Geld verdienen. Deshalb höre ich nebenher diese Kassetten – dabei lässt sich eine Sprache sowieso viel besser erlernen.» […] Es war so schön, ihn und die Familie im Alltag erleben zu dürfen! Die ganze Woche lief sowas von reibungslos ab… Keine komischen Momente, in denen ich das Gefühl hatte, irgendwas passt nicht. Jamila hat uns umsorgt wie eine Löwen-Mama ihre Jungen. Auch ohne gemeinsame Sprache haben wir uns bestens verstanden. Sie hat uns alle Abläufe gezeigt, vom Zähne putzen (wir wussten natürlich, wie das geht – aber nicht, welches Eimerchen man in welchen Bottich taucht) bis hin zum Duschen. Für letzteres erhitzte sie das Wasser in einem Eimer auf dem Gasbrenner. Mit zwei Eimern – einem mit warmem und einem mit kaltem Wasser – und einen Schöpfer zum Mischen des Wassers aus den beiden Eimern ging man in einen Raum mit schrägem Boden (damit das Wasser zum Gulli hin abläuft). Bei Erreichen der persönlichen Wohlfühltemperatur goss man sich dann das Wasser über den Kopf. Das hatte irgendwie was Uriges und ich fand es toll und befreiend, auf so ursprüngliche Weise zu duschen. Details zum Toilettengang werde ich jetzt nicht näher ausführen, aber so viel sei gesagt: hygienischer geht es nicht! Jamila zauberte jeden Tag unfassbar tolles Essen auf den Tisch: Couscous mit Gemüse und Fleisch, Suppen und Salate, mit Petersilie und Knoblauch gefüllte Sardinen… Es war einfach köstlich und wir haben alle gelacht, dass Dennis und ich mit dicken Bäuchen aus Afrika zurückkommen werden! Gerade merke ich, wie viel es noch zu erzählen gäbe… das sprengt jetzt den Rahmen. Es war auf jeden Fall eine tolle Zeit; auch mit tiefgreifenden Gesprächen mit meinem Dad, was mir unheimlich gut tat. Dennis und ich planen, im neuen Jahr wieder nach Algerien zu fliegen und so freue ich mich auf das nächste Treffen mit meiner Familie und alles, was da noch kommen mag.